Für Gartenliebhaber auf einer England Reise zählt der Besuch von Sissinghurst Castle sicherlich zum Pflichtteil des Urlaubsprogramms. Der weiße Garten ist weltbekannt und die Sammlung der alten Rosensorten legendär. Die Gartenleidenschaft der beiden Schöpfer ist heute noch zu spüren und macht Sissinghurst zu einem der schönsten Gärten der Welt.
Sissinghurst castle gardens
„War von Liebe überwältigt“, schrieb Vita Sackville-West in ihr Tagebuch, nachdem sie an einem regnerischen Tag im April 1930 die verwahrloste elisabethanische Schlossruine das erste Mal sah. Ein richtiges Wohnhaus gab es nicht, nur einen hohen rechteckigen Turm, flankiert von zwei achteckigen Türmchen und zwei verfallenen, auf dem Gelände verstreut liegenden Cottages, Mauerreste aus der Tudorzeit sowie ein Torhaus mit Stallungen.
Die Fantasie der Schriftstellerin und ihres Ehemanns, des Diplomaten und Journalisten Harold Nicolson, war entflammt. Drei Wochen später kauften sie das Anwesen mit rund 3 Hektar Farmland. Die folgenden 30 Jahre nahm Sissinghurst ihr Leben in Anspruch. Bis zu Vitas Tod 1962 gestaltete das Paar aus einer Brennnesselwildnis und Schuttbergen einen der berühmtesten Gärten – für viele der schönste Garten des 20. Jahrhunderts.
Neben Hidcote Manor steht Sissinghurst als Vorbild für den Architektonischen Garten, auch Englischer Garten des 20. Jahrhunderts genannt. Der in England als formal garden bezeichnete Gartenstil entwickelte sich zu Anfang des letzten Jahrhunderts und ist bis heute in Großbritannien sowie auf dem Kontinent beliebt und bestimmend geblieben.
Während Harold Nicolson, vernünftig und klassisch orientiert, das Grundgerüst des Gartens entwarf, übernahm die poetisch und romantisch veranlagte Vita Sackville- West die Bepflanzung.
Harold integrierte die verstreut auf dem Grundstück liegenden Wohngebäude in den Garten. Ziegelmauern, Treppen und Wege vervollständigen sein architektonisches Gerüst. Der Grundriss korrespondiert mit den Gebäuden und erweitert das tägliche Leben in den Garten.
Um von der Küche und dem Esszimmer im Priest’s House ins Arbeitszimmer im Turm oder zu den Schlafräumen im South Cottage zu gelangen, liefen Vita, Harold und ihre beiden Söhne Nigel und Ben bei Wind und Wetter quer durch ihren Garten.
Wie die Zimmer eines Hauses gliederte Harold Nicolson die Fläche in verschiedene Gartenräume. Getrennt durch Mauern und strenggeschnittene, dunkelgrüne Eibenhecken konnte der Stil und Charakter, auch die Farben jedes Raums, unterschiedlich ausfallen. Er plante lange Sicht- und Wegeachsen von Nord nach Süd und von West nach Ost wie zentrale Korridore eines Hauses. Von den Wegen öffnen sich kleine geometrische Gärten als intime Überraschung. Die Endpunkte der Wege, markiert durch eine „Lutyens-Bank“ oder „die Statue des Dionysos mit Wächterpappeln“, sind Blickpunkte, die neugierig machen und durch den Garten leiten.
Als Kontrast zur strengen architektonischen Einteilung füllte Vita Sackville-West die Gartenkammern mit einer lebendigen Pflanzenfülle. Vitas Liebe zu Opulenz, Großzügigkeit und Ästhetik drückt sich auch in ihrer Gartenphilosophie aus. Sie verabscheute alles Knauserige und Schäbige. Die Poetin liebte die alten Gartenpflanzen aus Shakespeares Werken, ließ sich von den Gestaltungsideen William Robinsons, Gertrude Jekylls und von Reisen nach Italien und Persien inspirieren.
Kletterrosen, Geißblatt (Lonicera), Feigen (Ficus carica) und Purpurwein (Vitis vinifera ‘Purpurea’) sollten die morbiden, altrosa Ziegelmauern mit Blüten- und Blattranken überziehen, ein Meer üppig blühender Stauden sollte aus den Beeten quellen und duftende Kräuter im Herb Garden Geschichten vergangener Zeiten erzählen.
Die zehn Gartenräume gestaltete Vita wie ein Theaterstück entsprechend den Jahreszeiten mit nacheinander folgenden Blütenhöhepunkten. Jekylls Idee, Staudenbeete wie eine Künstlerin mit Farben zu „malen“, entwickelte Vita mit der Pflanzung des legendären White Garden, eines monochromen Sommergartens ganz in Weiß, weiter.
Alte Rosen übten auf die Dichterin einen aufregenden Zauber aus. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren die einmal blühenden Gehölze beinahe vergessen. In ihren Kolumnen im Observer schrieb Vita leidenschaftlich über Moosrosen, Zentifolien, Remontant- oder Gallica-Rosen und sorgte in der Gartenwelt mit ihrer Rosensammlung im alten ummauerten Küchengarten für Aufsehen.
„Jeder, der dem Zauber Alter Rosen einmal verfallen ist, wird keine neuen in sein Herz schließen können (…). Wie bei Freunden lernt man, ihre Fehler zu übersehen und ihre Tugenden zu schätzen.“ Alle gelesenen Gedichte über Rosen und bewunderte Porträts auf Gemälden kommen beim Anblick von ‘William Lobb’, ‘Baron Girod de l’Ain’, ‘Cardinal de Richelieu’ oder der Samtrose Rosa gallica ‘Tuscany’ in Erinnerung. In Purpurrot mit samtigem Glanz, in seidigen Rosatönen und mit umwerfendem Duft rufen Alte Rosen Gefühle wach. „Samtrose. Was für eine Wortverbindung! (…). Es lehrt einen etwas, lange und intensiv in eine Rosenblüte zu blicken, besonders in eine Rose wie die ‘Tuscany’, die sich flach öffnet und dabei das erbebende und staubige Gold ihrer zentralen Vollkommenheit enthüllt.“
Sissinghurst ist zu einem Mythos geworden. Während Besucher den mit allen Finessen der Arts-and-Crafts-Bewegung geplanten Hidcote Manor Garden bewundern, fliegen Sissinghurst die Herzen zu, obwohl das Gartenkonzept vergleichsweise schlicht ist und Vita und Harold auf Baumaterialien wenig Wert legten. Doch Sissinghurst ist ein privater Garten, ein intimer Ort des Rückzugs, wie Harold noch 1963 betonte: „(…) ein Garten sollte dem Vergnügen seines Besitzers und nicht der Zurschaustellung dienen (…).“
In ihren Romanen und Gedichten wie in „The Garden“ schreibt Vita über ihr tiefes Verhältnis zum Garten. Für sie war Gärtnern ein endloses Experiment. Sie liebte England und speziell Kent, war in Knole, im größten elisabethanischen Schloss aufgewachsen. Ihr Garten sollte englisch sein, sich nahtlos in die idyllische Landschaft Kents, den Garden of England, einfügen.
Vita liebte es, in ihrem Garten auf dem Land zu leben und zu gärtnern. Damit kommt sie den Wünschen vieler Gartenfreunde auch heute sehr nah. Nach dem Tod von Harold 1967 übergab Nigel Nicolson Sissinghurst in die Hände des National Trust. Seit dieser Zeit versucht das Management zusammen mit den Chefgärtnern die intime private Atmosphäre des Gartens zu wahren – was nicht einfach ist bei 145.000 Besuchern pro Jahr (2012).
Für Garten- und Geschichtsinteressierte ist Sissinghurst dennoch ein MUST. Viele Ideen, die heute noch in Gartenmagazinen und Gartenbüchern über Gestaltung empfohlen werden, sind schon vor knapp 100 Jahren von Vita, Harold und ihren Chefgärtnerinnen Pamela Schwerdt und Sibylle Kreutzberger umgesetzt worden. Der Garten hat heute seinen Höhepunkt erreicht. Das Ziel der headgardener ist es, Sissinghurst auf hohem gärtnerischen Niveau als Inspirationsquelle für keen gardeners zu erhalten.
Als Einstieg in den Garten empfiehlt sich der Aufstieg im Turm. Vitas Arbeitszimmer erscheint, als ob sie es gerade verlassen hätte. Mit frischen Blumen und einem Foto ihrer geliebten Freundin Virginia Woolf auf dem Schreibtisch. Von der Dachterrasse ist der Blick atemberaubend. Hier wird nicht nur Harolds architektonisches Gartenkonzept und Vitas Pflanzenfülle aus der Vogelperspektive begreifbar. Hier wird deutlich, dass Sissinghurst mehr ist als nur der Garten.
Die Ruine des elisabethanischen Hauses mit seinen Gärten, das angrenzende Farmhaus und die oast houses, die traditionellen Hopfendarre-Häuser mit ihren weißen konischen Spitzenhauben, liegen inmitten der grünen Landschaft des Weald mit Wäldern, Bächen und Farmland. Spazierwege schlängeln sich an zwei kleinen Seen vorbei in den Laubwald, wo Vitas Hunde begraben liegen. Weit geht der Blick über die fruchtbaren Felder und Wiesen mit alten knorrigen Eichen in die Park- und Heckenlandschaft, in den Garden of England. All die Eindrücke, Bilder und Geschichten über die Persönlichkeiten der Gestalter berühren viele Menschen und machen Sissinghurst zu einem einzigartigen Ort.
© Jonathan Buckley, Marianne Majerus
Der Text und die Fotos in diesem Artikel sind aus dem Buch:

Anja Birne
Die schönsten Gartenreisen in England
Zu Besuch in romantischen Gärten mit den besten Geheimtipps
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ISBN: 978-3-7667-2509-7
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